durch die türkei

bosporus-expressistanbul, 30.10.2004
was ist reisen?
istanbul, 30.10.2004
ankunft
istanbul, 30.10.2004
groove is in the heart
istanbul, 30.10.2004
istanbul ist westanbul
30.10.2004
snapshot #2
istanbul, 1.11.2004
gespräch im basar
istanbul, 1.11.2004
im buszwischen istanbul und göreme, 2.11.2004
in asien
göreme, 3.11.2004
gespräch im auto
göreme, 4.11.2004



Bosporus-Express
Istanbul, 30.10.2004

14:00 Uhr, wir steigen in den Zug, der uns in sage und schreibe 20 Stunden nach Istanbul bringen soll, für eine Strecke von ungefähr Hamburg bis München. Unser Schlafwagen entpuppt sich als marodes Klappergestell. Na denn, gute Nacht! Schäbig und voll auf den Hund gekommen. Aber dass das noch zu steigern ist, weiss ich, als ich aufs Klo gehe. Uhbah! Eine bestialisch stinkende Kloake, der man die Spuren der Menschheit nur allzu deutlich ansieht. Aber was solls. Wer muss, der muss. Akrobatische Toilettenturnübungen, André Heller lässt grüssen. Männer habens da echt einfacher!

21:00 Uhr, Schlafen befohlen! Unsere "Betten" werden ausgeklappt. Neben uns im Abteil wird schon deutlich hörbar geschalfen, der Typ schnarcht wie nichts Gutes.

In stockfinsterer Nacht, um viertel vor zwei, wird wie wild an unserer Abteiltür gerüttelt. "Passports!". Ah, die Grenze Bulgarien-Türkei. Die Pässe werden gestempelt und nach ner guten Stunde nehmen wir erneut Fahrt auf. OK., weiterschlafen, so gut es geht bei dem Geklappere und Geschaukel.

Aber denkste! Wieder werden wir barsch wachgedroschen. "You have to go for visa!". Achso, also dann, Anziehen, raus auf den Bahnsteig, in die Schlage stellen und vom türkischen Grenzbeamten nen Stempel abholen. So, nun aber. Wieder ein ins Abteil, Klamotten aus. Der zweite Versuch einzuschlafen. Hah, weit gefehlt. Nach 40 minütigem Aufenthalt an der Grenzstation meinen die türkischen Grenzbeamten jetzt nochmal jeden auf seinen Stempel im Pass kontrollieren zu müssen. Verstehe das, wer wolle.

Dann endlich, aller guten Dinge sind drei, die letzten 5 Stunden bis Istanbul lassen sie uns dann doch ungestört schlafen, danke. Woher der Zug seinen gloreichen Namen hat, ist mir ehrlich gesagt völlig schleierhaft. nach Diktat verreist -dwo


was ist reisen?
istanbul, 30.10.2004


es ist halb vier nachts im bosporus-"express" zwischen bukarest und istanbul, und an schlaf ist nicht zu denken. nach anderthalb stunden pässe zeigen, vorm grenzschalter antreten, wieder pässe zeigen, dabei dem überdrehten gebrabbel zweier schlafloser rumäninnen lauschen, bin ich in diesem zustand nervöser, kraftloser schlaflosigkeit angekommen. einzig das bett des CFR-schlafwagens ist in ordnung, der rest eine farce: kein speisewagen für eine 20-stundenfahrt, die klos sind verdreckte latrinen, die kabinen mit ihren blindgeschrubbten fenstern und dem abgesprungenen furnier nur transportzellen.

das ist so ein augenblick, in dem einem die frage durch den kopf schiessen kann: warum machst du das eigentlich? ist es die perverse lust eines wohlstandseuropäers an komplikationen, chaos und schmuddel? "back to the roots" kann man solche touren wie im bosporus-express nicht nennen, denn jeder anfang des eisenbahnwesens war besser als das (und schlafwagen in indien sind luxus dagegen).

im grunde steckt darin die frage: warum reist man überhaupt? ja, was ist reisen? für mich ist die essenz des reisens immer die bewegung gewesen. eine permante bewegung durch fremde gegenden. das erfahren einer landschaft, im ursprünglichen sinne des wortes: "er-fahren". die permanente bewegung fordert dich heraus, mehr noch als das zurechtkommen mit einem fremden ort, an dem du dich gerade aufhältst.

die bewegung zwingt dir als reisendem ihren rhythmus auf, der sich aus der beschaffenheit des raumes ergibt: berge, flüsse, grenzen, politische komplikationen, schlechte infrastruktur, ernährung, krankheiten... es gibt keine möglichkeit zum rückzug mehr.

der reisende wird zur schnecke, schutzlos, mit nur einer tasche als gehäuse, das er überall mithinschleppt, um nicht ganz nackt zu sein. es ist eine erfahrung des reduziert-seins: plötzlich gibt es nur zwei hosen und ein paar t-shirts, aber siehe da, sie genügen. der ganze kleiderschrank zuhause ist nur notwendig, um von zeit zu zeit rollen in der gesellschaft zu spielen, rollen, die du spielen willst oder auch musst.

auf der reise hast du nur eine rolle, bis zum ende des stückes. du musst also wacher und auch schlagfertiger sein als zuhause, weil du dich hinter keine maske zurückziehen kannst. die kunst der reduktion ist also gleichzeitig gepaart mit einer schärfung der sinne. natürlich ist das ein prozess und kein zustand, der sich mit der abfahrt einschalten lässt.

nun könnte man einwenden, dass diese betrachtung ja nur vom reisenden ausgeht, nicht von der fremden kultur. kann man dieser in permanenter bewegung überhaupt gerecht werden? geht es hier nicht nur um einen egotrip? dieser einwand, den ich so oft gehört und mit manchen freunden diskutiert habe, erscheint mir wie eine bildungsbürgerliche heuchelei. wer reist, tut das immer zuerst aus seiner eigenen neugier, seiner abenteuerlust heraus, wie kulturbeflissen dieser drang auch verbrämt sein mag.

die entscheidung des reisenden, fortzugehen und neues zu entdecken, steht immer anfang, nicht das ziel. wir reisen, weil wir lust dazu haben und nicht, weil wir eine "interkulturelle" pflicht erfüllen wollen (ja, auch hier der immer wiederkehrende, sehr deutsche gegensatz von lust und pflicht, den schon schiller so schön verspottet hat).

der zweite trugschluss ist meines erachtens der glaube, dass man einer fremden kultur überhaupt je gerecht werden kann, wenn man nur den bewegungsradius klein hält, sie sozusagen von einem ort aus langsam in kreisbewegungen entdeckt  - das ist schon in der eigenen kultur unmöglich. da möchte ich doch wirklich gerne mal wissen, wer glaubt, dieses gebilde "deutschland" halbwegs erfasst zu haben. ich habe im ruhrgebiet, in hessen, berlin und hamburg jahre meines lebens zugebracht, aber verstehe ich deshalb das leben in sachsen oder baden? da mag ein engländer oder spanier, der einige zeit dort zugebracht hat, mehr drüber wissen.

es gibt noch eine wichtige unterscheidung: reisen ist nicht urlaub. urlaub ist ver-reisen, aber in dem zwiespältigen wortsinn, den die vorsilbe "ver" im deutschen ausdrückt, wie in verfallen oder verlaufen. urlaub ist, wenn überhaupt, die kunst der entspannung. aber letztlich  ist er nur dem effizienzwahn des modernen kapitalistischen arbeitslebens geschuldet, das keinen müssiggang im alltag mehr duldet.

reisen im sinne einer permanenten bewegung durch die fremde hat mit diesem reparaturverhalten nichts zu tun. es handelt sich um eine eigene seinsweise, den letzten rest des nomadentums, der einem westler im 20. oder 21. jahrhundert noch möglich ist. indem der reisende sich durch viele kulturen hindurchbewegt, kann er aber ausgerechnet das hypermoderne "global village" in seiner ganzen verwirrenden komplexität und vielfalt am ehesten wahrnehmen.

die künstliche klarheit einer "national"kultur hingegen, die der bildungsreisende erkundet, wenn er bewusst nur in ein fremdes land fährt, kann sich in ein gift verwandeln, das die köpfe vernebelt, die menschen in einer trügerischen sicherheit des verstehens wiegt und am ende doch betrügt. urlaub, bildungsreise und das nomadische reisen sind drei arten, sich in die ferne zu begeben. eine existenzielle erfahrung ist nur das nomadische reisen. die wünsche ich jedem wenigstens einmal im leben. -nbo


Ankunft
istanbul, 30.10.2004





Endlich! Das Meer, Sonne, echte warme Sonne! Jetzt ist es da, das Urlaubsgefühl. Istanbul, eine Stadt, die man mit einem Satz überhaupt nicht beschreiben kann. Die Wäsche trocknet auf der Terrasse vor unserem Hotelzimmer in einer Seitenstrasse der belebten Istiklal. Im sechsten Stock, mit Terrasse. Wie zu Hause! Voll der Luxus und das für schlappe 40 Euro. Auf der Preisliste an der Hotelrezeption standen 100 Dollar für das Zimmer. Keine Ahnung, wie ich das am Telefon gemacht habe, an meinem zarten Stimmchen kann bestimmt nicht gelegen haben. Das war bestimmt die Aishe in mir, türkischer Basar eben. Unten zieht ne Horde jubelnder Fussballfans vorbei. Rufen sie "Pauli, Pauli"? Nein, bestimmt nicht. Vielleicht werde ich es wissen, wenn es in fünf Tagen weitergeht. Aber erstmal ankommen! nach Diktat verreist -dwo


groove is in the heart
istanbul, 30.10.2004

samstagabend in beyoglu. menschenmassen schieben sich durch die altbauschlucht der istiklal caddesi, vorbei an unzähligen cafes, bars, buch- und CD-läden. in den seitenstrassen wird an kleinen tischen gegessen. alle paar meter ertönt ein neuer beat und wird gleich vom nächsten überlagert. wir steigen in einem alten treppenhaus ein paar stockwerke hoch und landen in der baraka-bar.

der DJ steht vor seinem CD-regal und greift zum nächsten hit. red hot chili peppers, dandy warhols, manu chao, deee-lite... der junge spielt gute musik. alle paar minuten kommen neue leute rein, viele gehen freudestrahlend zu seinem kleinem verschlag, begrüssen ihn (freut mich besonders für ihn). trainingsjacken, baseballkappen, gestiefelte frauen, dreadlocks, touristen, das ganze spektrum ist da. und während ich mit woldo auf einem sofa begeistert bei bier und raki sitzgroove, denke ich, dass ich mich in den vergangenen zwei wochen nirgendwo so zuhause gefühlt habe wie in beyoglu, dem "neuen" teil istanbuls (der hälfte nördlich des goldenen horns, einer langen bucht. tatsächlich ist dieses neu-istanbul auch schon mindestens 800 jahre alt). dasselbe volk wie bei uns, und alles so relaxed, keine genervten oder aggressiven gesichter wie etwa in bukarest.

von st. pauli oder ottensen nach istanbul ist es ein katzensprung im geiste. mag sein, dass beyoglu nicht istanbul und istanbul nicht die türkei ist, genausowenig wie new york die USA repräsentiert. aber es ist AUCH die türkei, über die in den letzten wochen sich die journalisten und politiker der republik so ereifert haben.

gestern war der 81. jahrestag der türkischen republik, doch premierminister und aussenminister waren zum ersten mal an diesem höchsten staatsfeiertag nicht auf heimischem boden - sondern in rom, wo die regierungschefs der EU und ihrer anwärter die EU-verfassung unterzeichneten. die türkischen zeitungen haben viel drüber geschrieben (wie in der presseschau der "turkish daily news" zu lesen). die grossen tageszeitungen haben diesen patriotischen lapsus wohlwollend kommentiert.

die türkei ist im aufbruch. mag istanbul auch die avantgarde sein, die richtung stimmt. beim zweiten raki - der DJ ist zu hiphop und latin beats übergegangen - habe ich die politik hinter mir gelassen. meine gedanken kreisen um st. pauli, phiesta und die bar centrale. hier in beyoglu sind sie besonders nah. nennt es den spirit des global village - für mich ist das an diesem abend ein zeichen dafür, dass es nach 9/11 noch eine maxime ausser "war on terror" und al qaidas freudlosem djihad gibt. sie lautet: "groove is in the heart." -nbo


Istanbul ist Westanbul
30.10.2004






Wer hätte das gedacht! Der europäische Teil der Stadt, nördlich des goldenen Horns, in dem wir untergekommen sind, fühlt sich überhaupt gar nicht befremdlich an. Die Gerüche aus den zig Imbissküchen, die Auslagen in den Essvitrinen, alles wohlbekannt, wenn man aus Hamburg kommt und in St.Pauli wohnt. Wer hier schnurrbärtige Manner und bekopftuchte Frauen erwartet, muss lange suchen. Nur ganz vereinzelt mal ein Ottenser Gemüsebäuerlein mit zerschlissenem Wintersakko und dem obligatorischen Erstlingswollmützchen auf dem Kopf.

Erstaunlich modern und vor allem mit Menschenmengen gefüllt ist die Haupteinkaufsstrasse, die Istiklal, in der man zu jeder Tages- und Nachtzeit, egal ob werktags oder am Wochenende sämtlichen kaueflichen Gelüsten nachgehen kann. Unzählige Kneipen, Cafés, Restaurants, Imbisse und Geschäfte reihen sich hier in bis zu acht Stockwerken aneinander. Gelassen gehts hier zu, geradezu fröhlich, ich bin begeistert. Gegenüber unserem Hotel stehen gelangweilte Polizisten vor ihrer Wache und versuchen, ernst dreinzuschauen. Aber selbst sie scheinen darauf zu warten, mit den Vorbeigehenden ein nettes Schwätzchen halten zu können.

So modern und aufgeschlossen, wie man sich hier gibt, scheint dem Beitritt zur EU eigentlich nichts mehr im Wege zu stehen. Meine Segen haben haben sie. Aber nur unter einer Bedingung: das Fremdgehen darf nicht mehr unter Strafe gestellt werden, denn das ist ein Eingriff in die Privatsphäre eines jeden.

Tags drauf überqueren wir mit der Fähre den Bosporus, um uns den asiatischen Teil der Stadt anzusehen. Kaum zu glauben, dass dies eine Stadt sein soll, deren Teile man nur mit einer viertelstündigen Bootsfahrt oder über die lange Brücke erreichen kann. Wie haben sie das denn früher gemacht, als sie technisch noch nicht so fortschrittlich waren? Kurz hinter der Kaimauer erkenne ich auch schon den entscheidenden Unterschied dieser beiden Stadtteile. Hier geht es zu, wie ich es in der gesamten Stadt erwartet hatte. Wuseliges Treiben in den engen Basarsträsschen, alles ziemlich vermüllt.
Und da sind sie dann auch endlich: die breitbeinigen Jungs mit einem Gang, als hätten sie Rasierklingen in den Achselhöhlen, das wichtigste Ausstattungsmerkmal ihres Autos die Bassbox. Kommt mir auch ziemlich bekannt vor. Und ist es nicht grossartig, dass man trotz der vermeintlichen Unterschiede keine gegenseitigen Berührungsängste mehr hat? Alles braucht eben seine Zeit, think global! nach Diktat verreist -dwo


snapshot #2
istanbul, 1.11.2004

an der wand hängt ein altes schwarzweissfoto der grande rü de pera. lange bevor sie zur istiklal caddesi wurde. drei brillen diskutieren mit nachdrücklichen gesten einen neuen roman, der als hardcover vor ihnen auf dem cafe-tisch liegt. eine blondierte frau mit stola-kragen und golden lackierten fingernägeln schreibt in grossen zügen ein gedicht in ein sehr grosses heft. tom waits raunt dabei nachlässig zeilen aus dem lautsprecher. kein lachen im raum. nur gedankenschweres starren oder bedeutsames debattieren. eine zeitung kreist zwischen vier köpfen. eine literaturzeitschrift dient als beleg für eine aussage. die blondierte dichterin bestellt einen tee. die brillen erheben sich, und adriano celentano übernimmt con una bella im dialog. ein junges lockenköpfchen mit gezupften augenbrauen und teddyjacke lässt sich nieder. beim bestellen blitzt sie den gut aussehenden kellner an. an der bar rüttelt ein bezopfter zum x-ten mal am fast leeren whiskeyglas. ein blüs setzt ein. im raum hängen schwere fragen: wie sieht der nächste schritt im leben aus? wie muss der nächste satz lauten? es riecht intellektüll, und der blüs wechselt ins aufgeregte. das ist das kaktus kahvesi in beyoglu am montagabend, in einer seitenstrasse der istiklal caddesi. -nbo


gespräch im basar
istanbul, 1.11.2004





der grosse basar in istanbul ist eine stadt in der stadt, nur komplett überdacht. als wir an einem kleinen platz an der hauptgasse des basars am tee nippen, tippt mich jemand von hinten an. ich drehe mich um: es ist eine ältere frau mit streng zurückgekämmten und zusammengeknoteten haaren, schwarzer mantel, brille, schwarze stoffhose. "was für einen eindruck haben sie von all dem?", fragt sie mich langsam auf englisch. sie scheint aus istanbul zu kommen.

ich erzähle ihr, wie begeistert ich vor allem vom stadtteil beyoglu bin. aber damit lässt sie mich nicht entkommen. "so what?" bohrt sie. ich fahre fort, doch sie sagt immer nur, lächelnd: "so what? come on, tell me." sie nippt kurz an ihrer sprite und kramt eine zigarette aus ihrer tasche hervor. wie sich herausstellt, spricht sie auch deutsch, weil sie vor jahren in münchen ihre doktorarbeit geschrieben hat. wir fahren auf deutsch und englisch fort. "ich fühle mich fremd in diesem land, in meinem land", sagt sie. "ja, es macht mir angst."

ich werde neugierig. das ist mehr als freundliche konversation mit einem touristen. ich beginne, ihr fragen zu stellen. sie ist etwa 60 jahre alt, universitätsprofessorin, an welcher uni, verrät sie mir nicht. in den USA habe sie als jugendliche ebenfalls einige jahre gelebt. dann kommt sie zum kern: sie regt sich über die junge generation in der türkei auf. die denke nicht nach, ihre maxime sei nur das verkaufen. "it's all about selling." dabei müsse sich so viel ändern in diesem land. aber da müsse wohl erst eine neue generation heranwachsen. von der jetzigen sei nichts zu erwarten. sie habe nichts anderes im sinn, als im spiel des big business mitmachen zu können. das könne sie bei ihren studenten beobachten. karriere zu machen, am besten in einem der grossen internationalen konzerne. die würden die besten leute abwerben. aber was könnten sie ihnen geben? "nichts. sie saugen nur ihre kraft aus." ihr sohn, 24 und elektroingenieur, sei auch schon in diesem "amerikanischen spiel" gefangen. "die menschen hier sehen nicht das big picture. sie haben keine eigenen ziele", stellt sie bitter fest, ohne resigniert zu wirken.

den möglichen EU-beitritt sieht sie skeptisch: "ich kenne die europäische mentalität." die sei auch nur im business-denken verhaftet. "ist das alles, was europa uns anzubieten hat?" dann fragt sie mich: "was ist ihrer meinung nach die lösung? sehen sie eine alternative zu dieser lebensweise?" ich verstehe sie zwar, muss sie aber ehrlicherweise enttäuschen: "darauf habe ich auch keine antwort." wir sind uns einig, dass die zeit der grossen politischen gegenbewegungen vorbei ist. "vielleicht müssen wir jüngeren im kleinen ganz neu anfangen, parallel zum big business", versuche ich etwas optimismus zu verbreiten. sie lacht sarkastisch: "come on!" -nbo


Im Bus
Zwischen Istanbul und Göreme, 2.11.2004

Um halb neun abends soll es losgehen, mit dem Bus von Istanbul nach Göreme, in der Mitte Anatoliens. Wir verschlendern noch den Tag in Aussüllungen und Cafes und gehen dann samt unseres Gepäcks zum Ticket Office, von dem uns ein Mini Bus zum Busbahnhof bringt. Vorher schenke ich noch einem auf der Strasse zu Liegen gekommenen Obdachlosen meine Regenjacke, die ich ja nun hoffentlich nicht mehr brauchen werde.

Der Busbahnhof ist für Istanbul ungefähr das, was für Frankfurt der Flughafen ist. Eine unüberschaubare dreigeschossige Bausünde aus den frühen 70igern. Im Bus sitzen wir gerade erst auf unseren Plätzen, als sich auch schon die Frau vor mir samt Sitz gemütlich in die waagerechte Schräglage bringt, um nichts anders zu tun, als genüsslich auf zwei Sitze ausgestreckt ihre Zeitung zu lesen. Es gibt eben immer Menschen die meinen, allein auf der Welt zu sein. Mein Buch eingeklemmt zwischen Brust und Vordersitz fange ich wie ein Rohrspatz an zu schimpfen, natürlich auf deutsch.

Als ich frage, ob wohl noch mehr Leute kommen, antwortet nicht Niels, sondern meine Vorderfrau: "Kann sein, ist noch nicht klar.", natürlich auf deutsch. Ich schäme mich ob meiner Flüche tief in meinen Sitz. Na prima, 11 Stunden Schämen. Aber zum Glück wird ja zwischendurch auch mal geschlafen. Lektion #1: Fluche nie in der Fremde, denn man könnte dich verstehen! nach Diktat verreist -dwo


in asien
göreme, 3.11.2004






um 6 h morgens öffne ich im sitz unseres nachtbusses die augen. hinter einer bergkette am horizont leuchtet rot der himmel, die sonne ist noch nicht aufgegangen. auf der leeren strasse gleitet der bus geradezu über die weite baumlose landschaft in den morgen hinein. diese leere ringsum, diese herrliche leere. keine häuser, keine dörfer, nichts. wir sind endlich in asien.

als wir zweieinhalb stunden später in göreme in kappadokien (zentraltürkei) ankommen, finden wir uns in lummerland wieder. so phantastisch sehen die tuffsteinkegel in dem weiten tal aus. ich würde mich nicht wundern, wenn plötzlich herr turtur, der scheinriese aus "jim knopf", hinter einem dieser seltsam phallischen felsgebilde hervorträte. bei näherem hinsehen sind sie alle durchlöchert wie gigantische sandburgen, in die kinder zu viele tunneleingänge gegraben haben. es sind verlassene höhlenwohnungen, eingänge zu versteckten kirchen und taubenschläge (in dem guano für naturdünger gewonnen wird). nach fünf städten in zweieinhalb wochen beruhigt diese surrealistische landschaft die sinne ungemein. erst recht nach dem treiben in istanbul. -nbo

In Göreme erwartet uns Postkartenwetter. Strahlend blauer Himmel bei angenehmen 20 Grad. An dem etwas überdimensionierten Busbahnhof lässt sich unschwer erkennen, was hier in der Hochsaison los sein muss. Diverse Reihen Miet-Vespas und einige Fun-cars stehen jetzt nur noch gelangweilt am Strassenrand. Und in der Tat, dieser Ort hat allerhand zu bieten. Dass sie hier allerdings Teile von Star wars gedreht haben, ist nur ein Bär, den sie den Touristen aufbinden, wie wir am nächsten Tag von unserem schwer gesprächigen Guide erfahren.

Nachdem wir am ersten Tag die spacige Landschaft noch auf eigene Faust erkundet haben, haben wir für den zweiten eine ausgedehnte Tor zu den entlegeneren Schauplätzen, wie z.B. eine 54 meter tiefe unterirdische Stadt und den 140 km südlicheren Canyon gebucht. Nach einem 8-stündigem Hör- und Seherlebnis habe ich eine audiovisülle Magenerweiterung und schlafe auf dem Rücksitz des Wagens ein. Ich kann nicht mehr, die totale Übersättigung. Göreme ist zwar eine Travellerhochburg, wo sich abends in den Restaurants die Rucksäcke mit ihren beeindruckensten Reisegeschichten gegenseitig zu überbieten versuchen, aber es ist auf jeden Fall ein sehr abgefahrenes Fleckchen Erde, das ich hier überhaupt nicht erwartet hätte. nach Diktat vereist --dwo


gespräch im auto
göreme, 4.11.2004

tourguides sind an sich eine wenig geachtete spezies. meist erzählen sie nur das offensichtliceh oder repetieren den bodensatz des wissens, der sich in besseren reisehandbüchern findet. als quelle für interessante einblicke in eine kultur sind sie nicht zu gebrauchen. aber es gibt ausnahmen. unser guide bora bilen ist eine davon.

der mann (ende 20) tritt in abgewetzten trendjeans und mit ungewöhnlichem after-shave auf den plan (eine tour zu einer unterirdischen stadt von christen aus dem 6./7. jahrhundert). dann beginnt er zu erzählen - und hört den rest des tages nicht mehr auf. er, der geschichte studiert hat und das politische zeitgeschehen regelrecht aufzusaugen scheint (nebenbei, er ist staatlich lizenzierter guide), entpuppt sich als origineller, mitunter provokativer kopf, der einen gewissen kemalistischen nationalstolz nicht verbergen kann und will.

während er am lenkrad sitzt, lässt er permanent osmanische militärmärsche laufen. die hielten ihn beim fahren wach, sagt er. und während er bei seinem vortrag mit einigen "touristischen lügen" aufräumt und stattdessen mit liebe zum detail die geschichte der unterirdischen städte erläutert, erklärt er uns nebenbei seine sicht der welt. well, hier ein paar beispiele.

zum irakkrieg, von dem er nichts hält: es sei klar, warum deutschland, frankreich und russland nicht mitgemacht hätten. alle drei hätten seit langem die UN-sanktionen gegen saddam husseins regime unterlaufen und- anders als die USA - in den letzten jahren florierende wirtschaftsbeziehungen zu saddam aufgebaut. die wollten sie sich nicht kaputt machen, und nur deshalb hätten sie george bush einen korb gegeben.

zum EU-beitritt der türkei: für ihn gebe es keinen grund, die türkei nicht aufzunehmen. nur faule ausreden seitens der europäer. doch der zug sei eigentlich abgefahren. die türken seien zu lange, seit den 60er,n von den europäern an der nase rumgeführt worden. und für die türkei lohne sich die EU auch gar nicht mehr. "der europäische basar ist voll." was solle die türkei dort verkaufen? die zukunft sei ein bündnis mit russland. dort könne man den russischen basar noch mit türkischer wirtschaftspower ("10 prozent wirtschaftswachstum letztes jahr, mehr als china!" sagt er) noch aufbauen.

zum genozid der türken an den armeniern in den 20ern: als das osmanische reich nach dem ersten weltkrieg zerfiel, hätten die europäer auch das gebiet der heutigen türkei unter sich aufteilen wollen, mit istanbul als internationaler stadt. und während atatürks armee an vielen fronten um die unabhängigkeit der türkei kämpfte, hätten die griechischen und armenischen christen in anatolien die dortige zivilbevölkerung massakriert. als die türkische armee an den aussengrenzen gesiegt hatte, habe sie eben die brutalen griechen und armenier aus dem land geschmissen. er wolle die türkische politik der vergangenheit nicht schönreden, aber der begriff "genozid" passe hier nicht. das sei ein bürgerkrieg gewesen und kein staatlich geplanter mord an den armeniern.

zu den türken in deutschland: die möge in der türkei keiner. das seien alles angeber, die nur kommen, um ihren mercedes zu zeigen. im grunde der unqualifizierteste teil der türkischen bevölkerung, der hier niemandem fehle. natürlich hatte er auch noch ein paar leichte verschwörungstheorien zu anderen heissen eisen der weltpolitik parat, aber die trug er sehr intelligent vor. wenn einer von euch mal nach kappadokien kommt, macht eine tour mit ihm. es ist keine sekunde langweilig (kontaktdaten folgen noch). -nbo


chronik

etappen
hamburg – istanbul
istanbul – dahab
dahab – wadi halfa
wadi halfa – addis
addis – nairobi
nairobi – nungwi
nungwi – kyela
kyela – tofo
tofo – kapstadt

gedanken
was ist reisen?
verschiedenes

länder
deutschland
polen
slowakei
ungarn
rumänien
türkei
syrien
libanon
jordanien
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sudan
äthiopien
kenia
tansania
malawi
mosambik
lesotho
südafrika
schnipsel

gesamte chronik